Cover
Titel
Reformation. Europe’s House Divided 1490–1700


Autor(en)
MacCulloch, Diarmaid
Erschienen
London 2003: Allen Lane
Anzahl Seiten
864 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Beat Kümin, Historisches Institut, Universität Bern

Als A. G. Dickens in den frühen 1970er Jahren die Reformation als «urban event» charakterisierte, gab er der deutschsprachigen Forschung wichtige Impulse. Nach einer längeren splendid isolation bemüht sich die britische Reformationsforschung – angeführt von Euan Cameron, Andrew Pettegree und Patrick Collinson – seit kurzem wieder vermehrt um eine kontinentaleuropäische Perspektive. Der vorliegende Band stellt den bisher zweifellos ambitiösesten Versuch einer Gesamtdarstellung dar. Es handelt sich in Anspruch wie Länge um ein monumentales Unterfangen: angestrebt wird ein Überblick über das gesamte konfessionelle Spektrum der «Western Church of the Latin Rite», d.h. alle katholischen wie protestantischen (nicht aber orthodoxen) Gruppierungen, und dies vom späten 15. bis ins frühe 18. Jahrhundert.

Diarmaid MacCulloch ist der zurzeit führende Kenner des englischen 16. Jahrhunderts, d.h. der Epoche der von 1485 bis 1603 herrschenden Tudor-Dynastie. Als Schüler von G. R. Elton und Professor der Kirchengeschichte an der Universität Oxford zeigt er sich mit Politik wie Theologie dieses Zeitalters im gleichen Masse vertraut. Unter seinen vorgängigen Publikationen sticht primär die mehrfach ausgezeichnete Biographie des englischen Kirchenfürsten und -reformers Thomas Cranmer hervor. Wie er einleitend bekennt, ist sein persönlicher Standpunkt «neither confessional nor dogmatically Christian» (S. xxv), auch wenn er in früheren Jahren der anglikanischen Kirche eng verbunden war.

Dem Leser bietet das Buch eine meisterhafte Aufbereitung der unüberschaubar gewordenen Literatur in der wissenschaftlichen lingua franca. Wo das Thema wie im vorliegenden Fall einem einzelnen Bearbeiter praktisch unüberwindliche linguistische Hürden stellt, ist die vergleichende Betrachtung der in allen Teilbereichen betriebenen englischsprachigen Forschung wohl das tauglichste Mittel für eine Gesamtdarstellung geworden. Eine Fülle neuer Erkenntnisse wird hier präsentiert und kontextualisiert, besonders ausführlich etwa im Falle von Graeme Murdocks Arbeiten zur Relevanz des Calvinismus in Südosteuropa. Zudem bemüht sich MacCulloch wenigstens punktuell um den Einbezug nicht-englischer Literatur – ja er besuchte im Hinblick auf das Projekt gar einen Deutschkurs! Der Ertrag dieser lobenswerten Anstrengungen bleibt allerdings bescheiden. Die für das Reich so heftig geführten Debatten um Konzepte wie «Konfessionalisierung» oder «Gemeindereformation» werden fast vollständig ausgeblendet. In diesem Sinne ist es ein «typisch» englisches Buch geworden.

Der Autor teilt seine Ausführungen in drei Teile: Erstens ein Überblick über die Kultur des um seine Einheit ringenden christlichen Abendlandes (bis 1570), zweitens eine regional differenzierte Schilderung der Fragmentierungsprozesse (bis 1619) und drittens eine thematisch gegliederte Analyse nachreformatorischer «Patterns of Life». Wieso Teil II das Enddatum 1619 trägt (wenn doch die Darstellung weit über den Dreissigjährigen Krieg hinaus bis um 1700 weiter geführt wird), ist nicht ganz einsichtig und beim thematischen dritten Teil wird die Auswahl der Sachgebiete (Kalenderreform, Bildersturm, Totenkult, Familie und Sexualität) nicht weiter legitimiert; Ausführungen zu politischem Leben und Festkultur hätten hier wohl auch Platz verdient. Vervollständigt wird der Band mit Dienstleistungen wie dem Abdruck katechetischer Grundpfeiler (10 Gebote, Vaterunser usw.), einem ausführlichen Register, weiterführender (englischer) Literatur und zahlreichen Abbildungen und Karten (die allerdings nur lose mit dem Text verknüpft werden).

Zu den grossen Stärken des Bandes gehört die kristallklare Vermittlung komplexer theologischer Inhalte. Wie sich die philosophischen Schulen des Nominalismus und Realismus innerhalb der spätmittelalterlichen Scholastik unterschieden, wird ebenso einsichtig wie die Differenz zwischen den Abendmahllehren Luthers, Zwinglis und Calvins. Als Leitidee des ganzen Zeitalters tritt immer wieder Augustins Betonung der fundamentalen Sündhaftigkeit des Menschen hervor, ja als zündender Funke der Reformation(en) wird «a new statement of Augustine’s ideas on salvation» (S. 110) identifiziert. Grundlage der Rechtfertigung sei allein Gottes Gnade, nicht aber menschliches Werk. Erasmus und Luther erfahren differenzierte Bewertungen: Ersterer als unbestrittener Trendsetter in Sachen Kirchen- und Textkritik, aber auch als eitel-opportunistische celebrity; letzterer als Vertreter spannungsgeladener und oft paradoxer Ansichten, so etwa der Hierarchisierung einzelner Bibelteile trotz sola scriptura Prinzip. Der weit gesteckte geographische Rahmen erlaubt grossflächige Vergleiche – z.B. ein Nord-Süd-Gefälle in der Relevanz der Fegefeuerdoktrin für die spätmittelalterliche Kirche – und die chronologische longue durée die Analyse von Tendenzen wie der zunehmenden Frauendominanz in Frömmigkeitspraktiken, der gestaffelten Umsetzung tridentinischen Gedankengutes im katholischen Europa oder «unbeabsichtigter» Reformationsfolgen wie der Erstarkung des Toleranzgedankens. Wohl auch als Reflektion aktueller Debatten in der anglikanischen Kirche wird das Thema Homosexualität prominent beleuchtet, wobei MacCulloch zu einem bemerkenswerten Schluss gelangt («the Bible is simply wrong»; S. 705). Aufgrund enger historischer Verflechtungen traut der Autor England zudem eine Vermittlerrolle zwischen der evangelischen Hochburg USA und dem zunehmend säkularen Europa zu.

Aus schweizergeschichtlicher Perspektive stehen naturgemäss die Ausführungen zu Zwingli und Calvin im Vordergrund. Hier wird zu Recht die konfliktreiche und dirigistische Durchsetzung des neuen Glaubens in Zürich und Genf betont («disorder has never appealed to the Swiss»; S. 147), doch bleiben die gemeinen Leute – wie auch an anderen Stellen, etwa in der Behandlung von Stadtreformation und Bauernkrieg im Reich – auffallend blass und undifferenziert. Dies gilt auch für Graubünden, obschon hier auf die Arbeiten von Immacolata Saulle Hippenmeyer Bezug genommen wird.

Insgesamt kann man vor der Parforce-Leistung MacCullochs nur den Hut ziehen. Die Beherrschung und anschauliche Aufbereitung dieses riesigen Themenkomplexes verdient Bewunderung. Für die akademische Lehre ist Camerons «European Reformation» vielleicht griffiger und Sozialhistoriker hätten da und dort noch etwas tiefer gebohrt, aber als Handbuch der abendländischen Religionskulturen der frühen Neuzeit wird sich dieses Buch einen prominenten Platz sichern. Es sollte in keiner wissenschaftlichen Bibliothek fehlen.

Zitierweise:
Beat Kümin: Rezension zu: Diarmaid MacCulloch: Reformation. Europe’s House Divided 1490–1700. London, Allen Lane, 2003. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 1, 2004, S. 107-108.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 1, 2004, S. 107-108.

Weitere Informationen